© Thomas Victor für DIE ZEIT (l.); Sebastian Lock für DIE ZEIT
Aktenkoffer vor Schulranzen?
DIE ZEIT: Herr Piepel, Sie studieren in Dresden und engagieren sich in der Generationen-Stiftung, die sich für die Rechte junger Menschen einsetzt. Gerade haben Sie Deutschlands Schulpolitikern in einem offenen Brief Versagen vorgeworfen. Was genau kritisieren Sie?
Moritz Piepel: Unter Kindern und Jugendlichen herrscht große Wut auf die Bildungsministerinnen und -minister. Wir haben Monat elf der Pandemie – und stolpern noch immer von einem Tag zum nächsten. Niemand weiß, wann die Schulen wieder aufmachen; niemand hat eine Idee, wie die Lernrückstände aufgeholt werden; jeder sieht, wie sehr es bei der Digitalisierung hapert. Gäbe es Noten für die Bildungsminister, bekämen sie ein »ungenügend«.
ZEIT: Frau Eisenmann, Sie sind CDU-Kultusministerin in Baden-Württemberg und wollen dort im März Ministerpräsidentin werden. Stimmt der Vorwurf, dass der Lockdown zu sehr zulasten der jungen Generation geht?
Susanne Eisenmann: Pauschale Kritik ist einfach und läuft medial immer bombig – und Kritik an den Kultusministern besonders, das ist Teil unseres Geschäfts. Eine differenzierte Diskussion ergäbe aber differenziertere Noten. Was konkret ist Ihr Vorwurf? Dass wir im digitalen Bereich in Deutschland Nachholbedarf haben, steht außer Frage; viele Gesundheitsämter arbeiten noch mit Fax. Dass wir die Schulen über Wochen schließen, hat keiner so geplant.
Piepel: Schulen dichtzumachen ist ja kein zwingender Schritt. Das Grundrecht auf Bildung wird in Deutschland seit vielen Monaten verletzt – das muss aufhören. Ich bestreite natürlich nicht, dass man Maßnahmen ergreifen muss, um das Pandemiegeschehen zu verlangsamen. Aber dabei muss man den Rechten von Kindern und Jugendlichen den Vorrang geben vor den Interessen Erwachsener.
ZEIT: Wie könnte das aussehen?
Piepel: Man könnte auch andere gesellschaftliche Bereiche einschränken, wie es Nachbarländer gemacht haben. Man hätte schon im November eine strikte Home-office-Pflicht einführen sollen, die auch kontrolliert wird.
Eisenmann: Homeoffice funktioniert leider nicht überall. Wie soll die Verkäuferin im Homeoffice arbeiten? Wie die Polizei? Und auch viele Betriebe können wir nicht auf null stellen. Wir brauchen sie, um irgendwann die Schulden, die wir nun machen, wieder zurückzahlen zu können.
Piepel: Wir wollen die Wirtschaft nicht auf null stellen. Es darf nur nicht sein, dass den Aktenkoffern grundsätzlich Vorrang vor den Schulranzen gegeben wird.
Eisenmann: Da bin ich ganz Ihrer Meinung: Man sollte den Schulen einen Sonderstatus einräumen. Diese Debatte führe ich jetzt seit Wochen, und die Aufregung darüber ist groß: »Hu, Frau Eisenmann will die Schulen öffnen!« In Frankreich gab es einen scharfen Lockdown, aber die Schulen blieben geöffnet. Ich bin für einen strikten Lockdown auch in Deutschland. Doch dass manche unterschiedslos sagen: Baumarkt zu, Schule zu – das ist mir zu einfach. Das müssen wir unterschiedlich behandeln.
Piepel: Die Schulschließungen haben massive Kosten. Erstens werden Eltern blockiert, die nicht arbeiten können, zweitens hat das Ifo-Institut hochgerechnet, dass wir bis Ende des Jahrhunderts unfassbare 3,3 Billionen Euro an volkswirtschaftlichen Schäden anhäufen, wenn die Schulen bis Ende Februar dicht bleiben. Die Wirtschaft herunterzufahren verursacht Einmalkosten. Die Schulen zu schließen verursacht langfristige Kosten für die Gesellschaft, weil die Qualifizierung und die Kompetenzen bei jungen Menschen geringer ausgeprägt werden.
ZEIT: Frau Eisenmann, zahlen die Jüngeren also einen zu hohen Preis in der Pandemie?
Eisenmann: Die Gefahr ist da. Wir müssen verhindern, dass diese Generation für die Schulschließungen büßen muss. Mir geht es aber weniger um den volkswirtschaftlichen Schaden als um die sozialen Probleme, die Kinder haben. Jene, die nicht in stabilen sozialen Verhältnissen leben, wo Gewalt ein Thema ist und wo die psychischen Folgen groß sind. Diesen Kindern zu helfen ist mein Antrieb.
Piepel: Dann wäre es doch das Beste gewesen, die Schulen gar nicht erst zu schließen. Und wenn man das schon tut, hätte Ihr Ministerium kreativere Konzepte vorlegen müssen: Was ist mit Wechselunterricht? Mit Studierenden als Lehrkräften? Was ist mit Unterricht in Veranstaltungs- und Hotelsälen, die ohnehin leer stehen? Stattdessen schlägt Frau Merkel vor, Kniebeugen zu machen, wenn Klassenräume im Winter durchs Lüften zu kalt werden. In den Ohren vieler Schüler klang das wie Hohn.
Eisenmann: So gut ich es finde, dass Sie eine klare Meinung vertreten, Herr Piepel: Sie sprechen nicht für die Jugend, andere nicht für die Eltern und nicht für die Lehrer. Es gibt in jeder Gruppe Hunderte Meinungen. Wir 16 deutschen Kultusminister jeglicher Couleur sind an Vielstimmigkeit gewöhnt. Wir stellen manchmal amüsiert fest, dass in jedem Bundesland etwas anderes gefordert wird.
ZEIT: Olaf Scholz hat von der »Bazooka« gesprochen – die Politik werde in der Corona-Krise finanziell alles einsetzen, was nötig sei. Profitieren davon auch die Kinder und Jugendlichen?
Eisenmann: Bund und Länder haben viel Geld für die Schulen in die Hand genommen, zum Beispiel allein 500 Millionen Euro, um Schüler mit Laptops auszustatten, weitere 500 Millionen Euro für Leh-rer-laptops. Die sozialen und psychischen Folgen und Probleme der Pandemie für Kinder sind aber nicht nur eine Frage des Geldes.
Piepel: Trotzdem ist in diesem Corona-Jahr wenig an den Schulen passiert. Laut Deutschem Schulbarometer fanden im vergangenen Frühjahr 66 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer, ihre Schule sei schlecht auf den digitalen Unterricht vorbereitet. Im Dezember, beim zweiten Shutdown, waren es immer noch 61 Prozent. Das ist doch ein Armutszeugnis für die Politik!
ZEIT: Was, finden Sie, muss besser werden?
Piepel: Erstens ist die Ausstattung schlecht. Und zweitens reicht es nicht aus, Tab-lets zu verteilen und den halben Tag lang Videokonferenzen zu machen. Das ist noch keine Digitalstrategie!
Eisenmann: Man muss noch mehr machen, richtig. Doch wenn man die einzelnen Länder betrachtet, sieht man, dass seit dem vergangenen Jahr viel passiert ist: In Baden-Württemberg haben wir 300.000 Laptops an die Schüler verteilt. Nachdem wir am ersten Tag nach den Weihnachtsferien auch durch einen Hackerangriff kurzzeitig Probleme mit unserer Lernplattform hatten, laufen unsere Server wieder. Der Fernunterricht funktioniert – zumindest für die Älteren. Bei den Grundschülern ist Fernunterricht in der Tat schwierig, dies liegt aber nicht an der mangelnden Technik, sondern daran, dass sich die Kleinen schwertun mit dem digitalen Lernen, vor allem wenn sie noch nicht lesen und schreiben können.
Piepel: Natürlich gibt es Bundesländer, die mehr machen als andere. Aber überall sind wir nicht weit genug. Nur jede vierte Schule hat überhaupt WLAN. Und auch bei Ihnen bleiben einige der 300.000 Laptops noch im Lehrerzimmer liegen.
Eisenmann: Ich behaupte nicht, dass alles immer rundläuft in den Schulen. Und weil Sie so gern Studien zitieren: Laut der JIM-Studie aus dem vorigen Jahr hatten nur sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen an weiterführenden Schulen ein Problem mit der digitalen Ausstattung. 60 Prozent sagen aber, dass sie im Fernunterricht ein Problem mit selbst organisiertem strukturiertem Lernen hatten. Deshalb müssen wir so bald wie möglich vom Fernunterricht wieder zurück in die Präsenz in den Klassenräumen gehen.
ZEIT: »Man muss noch mehr machen«, sagen Sie, Frau Eisenmann. Heißt das, Sie haben zu wenig getan seit dem Frühjahr?
Eisenmann: Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, dass Sie in elf Monaten aufholen können, was in zehn oder 15 Jahren verpasst worden ist. Es geht ja nicht nur darum, dass die Schulen ausgestattet sind. Auch die Elternhäuser müssen ausgestattet sein. Es gibt Regionen in Deutschland, wo wir leider noch kein schnelles Internet haben. In vielen Gegenden gibt es eine hohe Ablehnung und Widerstand gegen 5G und WLAN, insbesondere aus dem Bildungsbürgertum.
Piepel: Frau Eisenmann, mit Verlaub, Sie können mir doch nicht erzählen, dass der Digitalunterricht nicht funktioniert, weil manche Eltern 5G ablehnen. Wahr ist doch: Es gibt einfach zu wenige Konzepte, als dass Digitalunterricht funktionieren könnte.
Eisenmann: Wir haben Konzepte. Und viele Städte bieten an, in Bibliotheken oder Hotels zu lernen, in denen es WLAN gibt.
ZEIT: Corona beschleunigt so vieles. Warum gelingt es dann nicht, in elf Monaten die Schulen zu digitalisieren?
Eisenmann: Politik beginnt mit der Realität. Natürlich kann ich in kürzester Zeit das Geld zur Verfügung stellen, um Glasfaserkabel zu verlegen. Was meinen Sie, wie gern wir dieses Geld aufgewandt hätten! Nur muss das Geld auch verbaut werden, Sie müssen die Kabel doch auch verlegen, Sie brauchen Handwerker, Sie brauchen Fachleute, die aber über Monate hinweg ausgebucht sind. Fordern ist immer schön. Aber Forderungen müssen auch realistisch sein!
ZEIT: Selbstkritisch betrachtet: Was ist Ihnen im zweiten Shutdown nicht gelungen?
Eisenmann: Beim Thema Fernunterricht sehe ich kaum Versäumnisse, da haben wir viel hinbekommen. Anders ist es bei der Öffnung der Schulen. Nach dem ersten Lockdown haben sich alle geschworen, Kitas und Schulen nie mehr zu schließen. Da frage ich mich, ob ich noch mehr Druck für geöffnete Schulen hätte machen müssen. Ich finde den Kurs der Kanzlerin in der Corona-Pandemie grundsätzlich sehr gut. Ich habe nur eine andere Meinung dazu, ob man alle Schulen pauschal schließen sollte.
Piepel: Was viele junge Menschen seit Monaten belastet, ist die Unsicherheit. Ich habe das bei meiner Schwester mitbekommen, die voriges Jahr Abitur geschrieben hat. Sie wusste wochen- und monatelang nicht, woran sie ist. Die Sorge und Belastung war riesig. Außerdem: Die Forschung besagt, dass Stillstand beim Lernen Rückstand bedeutet. Ich habe mit Lehrerinnen und Lehrern gesprochen, die jetzt in der sechsten Klasse immer noch mit dem Buch der fünften Klasse unterrichten. Da müssen Lehrpläne angepasst werden. Aber da fehlt es an -Ideen, etwa für individuelle Nachhilfe. Wie wäre es, bundesweit Nachhilfe-Gutscheine über bis zu 100 Stunden zu verteilen?
Eisenmann: Tun Sie bitte nicht so, als hätten wir nicht schon längst auf die Schulschließungen reagiert! Wir haben in Baden-Württemberg bereits zu Beginn dieses Schuljahrs in allen Schularten den Lernstoff entfrachtet. Wir haben die Prüfungen verschoben. Wir haben in den Sommer-ferien kostenlose Nachhilfeangebote gemacht, die auch gut angenommen wurden. Und wir werden uns das auch für die kommenden Ferien vornehmen. Ich bezweifle, dass wir hier Gutscheine austeilen müssen. Wer überprüft dann, ob das, was private Nachhilfe-Institute bieten, auch wirklich das ist, was die Schülerinnen und Schüler brauchen? Im Übrigen leisten unsere Lehrkräfte da schon eine Menge.
ZEIT: Viele Lehrer sind derzeit gegen Präsenzunterricht, aus Angst, sich mit Covid-19 anzustecken. Wäre es gut, die Lehrer noch früher zu impfen als aktuell vorgesehen?
Eisenmann: Das ist ein Abwägungsprozess. Aber für mich spricht einiges dafür, dass Lehrerinnen und Lehrer schneller geimpft werden, als die Pläne es derzeit vorsehen. Ebenso wie Erzieherinnen und Erzieher.
ZEIT: Herr Piepel, könnte es sein, dass gar nicht pauschal eine verlorene Generation entsteht – sondern dass in dieser Generation Schüler nicht nur Algebra lernen, sondern auch Resilienz?
Piepel: Sicher, aber das wird nur bei den Leistungsstärksten der Fall sein. Der Krise damit eine positive Wendung geben zu wollen wäre zynisch. Dazu gibt es zu viele, die gerade abgehängt werden.
Das Gespräch moderierten Manuel J. Hartung und Stefan Schirmer
Das gesamte Streitgespräch ist in Die Zeit 05/21 erschienen und kann hier nachgelesen werden.